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Ist Melatonin ein Lebensmittel oder ein Arzneimittel? Und welche Rolle spielt es bei Diabetes?

Autoren: Dr. Steffen Jakobs, Dr. Philipp Skarupinski (https://www.law-skarupinski.com/)

Erschienen in: Zeitschrift für Medizin-Ethik-Recht, Jhg. 8, 2018, S. 71-81.

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Einleitung

Melatonin ist ein biogenes Amin, das dem Serotonin verwandt ist und im Großhirn produziert wird. Der Stoff steuert nach neueren Studien auch den Schlaf und andere Lebensprozesse wie Wachstum, Pubertät und Menopause. [1] Melatoninhaltige Stoffe werden in verschiedenartigen Produkten eingesetzt. Derartige Präparate können aufgrund einer ernährungsphysiologischen, pharmakologischen bzw. physikalischen Wirkung von Melatonin entweder den Lebensmitteln, Arzneimitteln bzw. Medizinprodukten zugerechnet werden.

In jüngster Zeit haben deutsche Gerichte dem Stoff Melatonin eine überwiegend pharmakologische Wirkung zugesprochen und entsprechende Präparate als Arzneimittel eingestuft, so die Urteile des Verwaltungsgerichts (VG) Köln vom 25. April 2017 [2] und des Oberlandesgerichts (OLG) Celle vom 02. Februar 2017 [3]. Nach den beiden Entscheiden gelte es als wissenschaftlich gesichert, dass Melatonin eine pharmakologische Wirkung mit nennenswerter Beeinflussung des Schlaf-Wach-Rhythmus als eine physiologische Funktion besitze. Dies gelte schon teilweise bei einer Melatonin-Dosierung ab 0,1 bis 2 mg.

Die EU-Kommission hatte – nach vorangegangener wissenschaftlicher Überprüfung durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (kurz EFSA)  – gesundheitsbezogene Aussagen für Melatonin zuvor für eine Aufnahmemenge von 0,5 mg bzw. 1,0 mg  zugelassen, welche nach der geltenden Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 bzw. sog. Health Claims Verordnung (HCVO) für Lebensmittel verwendet werden dürfen. Rechtlich gesehen, besagt die HCVO zwar nichts über die Produkteinstufung als Lebensmittel oder Arzneimittel aus, es ergibt sich aus den Entscheiden des VG Köln und OLG Celle aber die Fragestellung, ob die Health-Claims-Zulassungen für Melatonin rechtssystematisch und für Anwender noch praxistauglich sind. Die gerichtlichen Urteile führen in ihrer Konsequenz grundsätzlich dazu, dass melatoninhaltige Produkte nicht mehr bzw. kaum noch vorstellbar als Lebensmittel in den deutschen geschäftlichen Verkehr gebracht werden dürfen.

Zudem ist die Verwendung des Begriffs der pharmakologischen Wirkung in der Rechtsprechung zum Zwecke der Differenzierung zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln aus naturwissenschaftlicher Sicht teilweise nicht zweifelsfrei haltbar, welches die Auswirkungen und Begründungen der Urteile fraglich erscheinen lässt.

Neben dem Einsatz von Melatonin als schlafförderndes Arzneimittel steht in letzter Zeit zunehmend auch die Rolle von Melatonin bei Typ-2-Diabetes im Fokus aktueller Forschung. Der zweite Teil dieses Beitrags wird daher ausgewählte Humanstudien, die in diesem Bereich durchgeführt wurden, beleuchten.

 

Hauptteil

Die HCVO regelt und definiert für nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben lebensmittelspezifischer Produkte entsprechende zulässige Werbeaussagen und Kennzeichnungen für einzelne Stoffe und ist deshalb für Vermarkter von „Gesundheitsprodukten“ überaus bedeutsam. Ansonsten ist die Verwendung von nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben grundsätzlich verboten, sofern sie nicht den Anforderungen der HCVO entsprechen, vgl. Art. 10 Abs. 1 HCVO.

 

Keine Anwendbarkeit gesundheitsbezogenen Angaben für Melatonin nach HCVO

Für Melatonin sind nach der Verordnung (EU) Nr. 432/2012 vom 16. Mai 2012 zur Festlegung einer Liste zulässiger anderer gesundheitsbezogener Angaben über Lebensmittel als Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos sowie die Entwicklung und die Gesundheit von Kindern zwei Claims zugelassen. Es handelt sich um die Angaben „Melatonin trägt zur Linderung der subjektiven Jetlag-Empfindung bei“ und „Melatonin trägt dazu bei, die Einschlafzeit zu verkürzen“. Erstere Angabe darf nur für Lebensmittel verwendet werden die mindestens 0,5 mg Melatonin je angegebene Portion und zweitere Angabe für Lebensmittel, die 1 mg Melatonin je angegebene Portion enthalten. Nach der VO 432/2012 i.v.m. der HCVO sind für Vermarktung und Werbung von melatoninhaltigen Lebensmittel mit einer Dosierung von 0,5 mg bzw. 1,0 mg pro Portion die dargestellten Aussagen zur Linderung der subjektiven Empfindungen von Jetlag bzw. zur Verkürzung der Einschlafzeit zulässig. Hierfür sind zur Verwendung der Claims die genannten Mengen als niedrigste wirksame Dosis notwendig, um die in einem Claim zugelassene Anpreisung zu verwenden. Die EFSA überzeugte zum Wirksamkeitsnachweis insbesondere eine Metaanalyse über kontrollierte Interventionsstudien an Menschen [4], wonach es der Behörde als gewiss erschien, dass aufgrund der Studienergebnisse der Eintritt der gesundheitsbezogenen Wirkung bei beschriebener Dosierung hinreichend wissenschaftlich abgesichert ist. Die Vorschriften der HCVO setzen schließlich für die Zulässigkeit einer gesundheitsbezogenen Anpreisung als wesentliche Anforderung voraus, dass tatsächlich der Nachweis über die ernährungsbezogene oder physiologische Wirkung erbracht werden muss, vgl. Art 5 Abs. 1 Buchst. c) i.V.m. Ewgrd. 14 HCVO.

Nach den benannten Urteilen der deutschen Gerichte handelt es sich bei melatoninhaltigen Produkten regelmäßig um ein Arzneimittel gemäß § 2 Abs. 1 AMG, da eine pharmakologische Wirkung bereits bei einer Dosierung von 0,1 mg Melatonin erreicht werden kann. Nach dem VG Köln sei Melatonin insbesondere im streitgegenständlichen Produkt ein Stoff, der im menschlichen Körper angewendet wird, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische Wirkung zu beeinflussen. Ähnliches Ergebnis resümierte das OLG Celle, welches den Wirkstoff Melatonin generell als zulassungspflichtiges Funktionsarzneimittel einstufte.

Durch die Entscheide kommt es aufgrund der damit verbundenen Einstufung von Produkten als Arzneimittel zu rechtssystematisch zweifelhaften und widersprüchlichen Ergebnissen – nicht nur hinsichtlich der durch die HCVO geregelten Claims. Gesundheitsbezogene Angaben für Melatonin werden, zumindest in Deutschland, zukünftig kaum noch für ein konkretes Produkt mangels Einordnung als Lebensmittel und Zusprechung einer pharmakologischen Wirkung ab einer Dosierung von 0,1 mg anzuwenden sein. Die gerichtlichen Entscheide kommen letztendlich zum Ergebnis, dass es sich bei Melatonin um eine Substanz mit pharmakologischer Wirkung und nicht um ein Lebensmittel handeln kann.

Zwar ist der Zweck der HCVO nicht in einer Produktabgrenzung zu sehen und die getroffene Entscheidung der EFSA über eine gesundheitsbezogene Angabe lässt nicht auf die Zulassung für das Inverkehrbringen eines Produkts schließen. [5] Jedoch ist mit den Urteilen letztendlich die Verwendung einer gesundheitsbezogenen Angabe für melatoninhaltige Produkte nach der HCVO in Deutschland in denklogischer Konsequenz obsolet.

 

Beurteilung der dosisunabhängigen pharmakologischen Bewertung

Im Wesentlichen ist bei der Abgrenzung zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln von den Gerichten die Frage zu klären gewesen, ob das streitgegenständliche Erzeugnis eine pharmakologische Wirkung besitzt oder eben nicht. Im ersten Fall ist nach der Rechtsprechung von einem Arzneimittel, im zweiten Fall bei einer ernährungsphysiologischen Wirkweise von einem Lebensmittel auszugehen. Die Entscheidungsgründe der Urteile sind wiederum ein Indiz der fragwürdigen, auch höchstrichterlichen Rechtsprechung, da die Jurisprudenz bei dem Terminus „pharmakologische Wirkung“ als Kriterium der Abgrenzung zwischen Lebensmittel und Arzneimittel die Betrachtung aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht genauer hinterfragt. Nach der Rechtsprechung liegt „eine pharmakologische Wirkung immer dann vor, wenn eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen des Wirkstoffs und einem gewöhnlich als Rezeptor bezeichneten Zellbestandteil auftritt, die über die Wirkung hinausgeht, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel hat („Erheblichkeitsschwelle“). Es ist nicht ausreichend, dass ein Erzeugnis Eigenschaften besitzt, die der Gesundheit im Allgemeinen förderlich sind. Ein Arzneimittel steuert gezielt die Körperfunktionen von außen, während der Körper bei der unspezifischen Aufnahme von Nährstoffen über natürliche Nahrungsmittel die benötigten Bestandteile selbst identifiziert und modifiziert. Dabei sind alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen. Dazu zählen insbesondere seine Zusammensetzung, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann.“ [6] Alleinig eine „therapeutische Eignung” eines Produkts führt hierbei nicht per se zu einem Produktstatus „Funktionsarzneimittel”. Eine therapeutische Wirksamkeit eines Mittels belegt zwar deren pharmakologische Wirkung, jedoch ist sie kein notwendiges Element der pharmakologischen Wirkung. [7] Es genügt aber vielmehr, an die (naturwissenschaftlich) festzustellende Wirkung eines Produkts anzuknüpfen. Wenn ein Erzeugnis die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine „pharmakologische Wirkung” beeinflusst, kann es entsprechend kein „Lebensmittel” sein. Dies ist jedoch kritisch zu betrachten, da aus der Praxisperspektive die richterliche Rechtsprechung nur in wenigen Fällen wirklich inhaltliche Substanz bieten kann, vor allem dann, wenn die Wirkung eines streitgegenständlichen Produkts vergleichsweise eines Lebensmittels in angemessener Zufuhrmenge gegenübergestellt werden kann. [8] Die in der Rechtsprechung für die Prüfung von Grenzprodukten entscheidende pharmakologische Wirkweise ist sehr weit zu verstehen, der Begriff sollte daher eine konstruktive Anwendung finden. Ernährungsphysiologische Wirkweisen, die durch die Nahrungsaufnahme auftreten können, und ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse sollten hierbei nicht ganz außer Betracht gelassen werden.

Im Falle von Melatonin ist jedoch zu konstatieren, dass der Stoff in sehr geringen Mengen in Lebensmitteln vorkommt. Um eine Dosierung von z.B. 0,1 Milligramm Melatonin zu erreichen, müsste man entweder 1 Tonne Gurken oder 200 Kilogramm Bananen verspeisen. Im Vergleich dazu weisen Präparate mit Melatonin i.d.R. 1 bis 5 mg des Stoffs auf. Dieser Aspekt stützt also die Einstufung von melatoninhaltigen Präparaten als Arzneimittel. Übereinstimmend damit ist auch die tendenzielle Auffassung deutscher Gerichte, dass die pharmakologischen Wirkungen von melatoninhaltigen Erzeugnissen dosisunabhängig sind. Eine ähnliche Ansicht geht bereits aus einer behördlichen Stellungnahme des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hervor, wonach schon eine Melatonin-Dosis ab 0,1 mg für die Produkteinordnung als Arzneimittel ausreichend sei. [9] Der Begriff der pharmakologischen Wirkung wird in der Rechtsprechung vornehmlich dosierungsbezogen interpretiert. [10] Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Gerichte eine Beeinflussung der physiologischen Funktionen durch Melatonin bereits bei einer 0,1 mg Dosis-Wirkungs-Beziehung attestieren, die eine pharmakologische Wirkung im oder am Körper hervorruft, die über eine ernährungsphysiologische Wirkung hinausgeht. Bezogen auf die Produkte mit einem Wirkstoffgehalt zwischen 2 und 5 mg pro Kapsel ist eine solche nennenswerte Auswirkung sogar hinreichend wissenschaftlich belegt durch Studien, die der Zulassung als Arzneimittel durch die EMA vorangegangen waren. Dabei wurden ein signifikanter Einfluss auf Schläfrigkeit, Einschlafzeit sowie Schlafqualität [11] und Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln festgestellt. Das wissenschaftliche Gutachten der EFSA-Sachverständigengruppe aus dem Jahr 2010 geht sogar selbst, wie anhand der Metaanalyse von Herxheimer/Petrieist [12] ersichtlich, bei einer Dosierung ab 0,5 mg von einer chronobiotischen Wirkung und damit von einem pharmakologischen Effekt aus.

Die zusätzliche Differenzierung der nationalen europäischen Staaten bei der Auslegung und Anwendung von pharmakologischen oder ernährungsphysiologischen Wirkweisen macht eine Eindeutigkeit der Produkteinordnung und gesamteuropäische Rechtssicherheit unmöglich. Der Europäische Mitgliedsstaat Italien gehe nämlich bei Tagesdosierungen von 5 mg Melatonin von einer ernährungsphysiologischen und nicht von einer pharmakologischen Wirkung aus. [13] Auch Spanien als weiterer EU-Mitgliedsstaat bewerte Tagesdosierungen für Lebensmittel von bis zu 1 mg Melatonin pro Tag als ernährungsphysiologisch [14]. Dies führt zu keiner Bindungswirkung für die deutsche Rechtspraxis. Ein legales Inverkehrbringen eines Produkts in einem anderen Mitgliedstaat unter einer abweichenden Produktkategorie schließt es nicht aus, dass es in Deutschland aufgrund seiner pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Wirkungen als Arzneimittel eingestuft wird. [15]

 

Zwischenfazit

Was bleibt ist die ernüchternde Erkenntnis, dass für Melatonin-Produkte in der Praxis keine gesundheitsbezogenen Angaben nach der HCVO mehr anwendbar sein dürften. Die dosisunabhängige Einstufung als Arzneimittel führt zur Anwendbarkeit des Publikumswerbeverbots für zulassungspflichtige Arzneimittel. Präparate mit dem Stoff Melatonin sollten seitens von Melatonin-Herstellern und -vertreibern in Deutschland aufgrund seiner „anerkannten“ pharmakologischen Wirkung überhaupt nicht mehr als Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden.

 

Melatonin und Diabetes

In Deutschland ist bisher ausschließlich ein Arzneimittel zugelassen wurden, dass Melatonin enthalten darf. Dabei handelt es sich um Circadin® 2 mg Retardtabletten für die kurzzeitige Monotherapie der primären, durch schlechte Schlafqualität gekennzeichnete, Insomnie bei Patienten ab 55 Jahren. Abgesehen davon, wird bereits seit längerer Zeit vermutet, dass Melatonin auch bei anderen Indikationen wirksam ist. Dazu gehört auch die Prävention von Diabetes Mellitus Typ 2. Um herauszufinden, welche aktuelle Studienevidenz für einen Zusammenhang zwischen Melatonin und dem Risiko für die Entstehung eines Diabetes M. Typ 2 existiert, wurden relevante Studien in den Datenbanken: Medline, Embase und Cochrane Databases im Zeitraum von Anfang 2016 bis Ende 2017 selektiert. Es wurde ausschließlich nach Humanstudien gesucht. Zusätzlich wurde auch in Google Scholar nach einschlägigen Artikeln recherchiert. Aufgrund der Komplexität und des Umfangs der Thematik kann an dieser Stelle nur auf die wichtigsten Untersuchungen in kompakter Weise eingegangen werden.

 

Humane Interventionsstudien

In einer Interventionsstudie wurde 45 Probanden ohne Diabetes über einen Zeitraum von drei Monaten jeweils vor dem Zubettgehen 4 Milligramm Melatonin gegeben. 23 von den Teilnehmern trugen die Genvariante rs10830963 G [16] des Melatonin Rezeptors 1B (MTNR1B), die in vergangenen Studien mit einem erhöhten Diabetes-Risiko assoziiert gewesen war, 22 wiesen eine Nicht-Risiko-Variante auf. Nach drei Monaten ergaben Messungen, dass bei allen Testpersonen die Insulinausschüttung durch das Melatonin vermindert und die Blutzuckerkonzentration entsprechend erhöht war. Allerdings waren die Probanden mit der Risiko-Gen-Variante deutlich stärker betroffen. Die Forscher schließen daraus, dass erhöhte Melatonin-Aktivität die Insulinausschüttung senkt, und vermuten, dass Melatonin generell dazu dient, nachts die Insulinwirkung zu bremsen. Dies sei auch eine Erklärung, warum das Arbeiten in Nachtschichten das Diabetes-Risiko erhöhe, konstatierte das nordskandinavische Autorenteam um Tiinamaija Tuomi vom Endocrinology, Abdominal Center des Universitätskrankenhauses Helsinki. Folglich würden sie Risikogenträgern künftig von der Durchführung von Nachtschichten abraten. Zudem nehmen die Wissenschaftler an, dass die Einnahme von Melatonin-Präparaten stärker mit adversen Wirkungen einhergeht, als bisher angenommen – insbesondere bei Risikoträgern. [17]

 

Eine umfangreiche genetische Assoziationsstudie von Lane et al. (2016) [18] scheint das erhöhte Diabetesrisiko für Träger der Risikogen-Variante rs10830963 G zu bestätigen. Im Rahmen der Untersuchung wurden retrospektiv Teilnehmerdaten von verschiedenen Studienprotokollen extrahiert:

 ·         Daten von 10.332 Teilnehmern aus Querschnittsstudien

 ·         Daten von 3.021 Teilnehmern aus Studie mit polysomnographischen               Messungen

·         Daten von 1.513 Teilnehmern aus Studie mit aktigraphischen

           Messungen

 ·        Daten von 58 bis 96 jungen, gesunden Probanden aus

          Schlaflaborstudien.

Durch die Analyse der Daten fanden die Wissenschaftler bei den Teilnehmern der hochkontrollierten Schlaflaborstudien eine signifikante Assoziation zwischen dem Vorliegen der Risiko-Diabetes-Genvariante MTNR1B-rs10830963 und einer wesentlich länger erhöhten Melatonin-Konzentration (um 41 Minuten) bei der Exposition der Probanden mit gedämpften Licht (Dim Light Melatonin Offset). Zudem kam es bei diesen Personen zu einem verzögerten Abfall der Melatonin-Konzentration um 1 Stunde und 37 Minuten im Vergleich zu Nicht-Risikoträgern. Weiterhin konnten die Forscher mittels aktigraphischer Untersuchungen zeigen, dass bei Trägern der Risiko-Variante, die früh am Morgen aufstehen, ein höheres Diabetes-Risiko vorlag als bei „Spätaufstehern“. Das MTNR1B-Risiko-Allel scheint also die Melatoninsynthese zu beeinflussen. Aus den Ergebnissen konkludieren die Studienverantwortlichen, dass diese Risiko-Genvariante die endogene Melatonin-Produktion in den Morgenstunden verlängert und, dass sich dadurch möglicherweise das Diabetes-Risiko bei Frühaufstehern mit dem Risiko-Allel des MTNR1B-Gens erhöht.

Dass ein gesteigertes Risiko für Übergewicht und metabolische Erkrankungen wie Diabetes Mellitus bei Nacht- und Schichtarbeiten in Zusammenhang mit einer Kalorienaufnahme zu ungünstigen Zeiten der biologischen Uhr steht, wird seit längerem vermutet. Um diese Hypothese zu überprüfen testeten Stothard et al. (2017) [19] den Einfluss von einer „simulierten Frühschicht“ auf den Glucose-Metabolismus. Dazu wurden18 gesunde Probanden im durchschnittlichen Alter von 23 Jahren in eine 16-tägige randomisierte Studie einbezogen. Die Forscher teilten die Probanden in zwei Gruppen ein: die Probanden der ersten Gruppe (Kontrolle) schliefen wie üblich acht Stunden lang, die Teilnehmer der zweiten Gruppe gingen eine Stunde früher als sonst zu Bett und wachten ca. 2,5 Stunden früher auf als gewöhnlich („simulierte Frühschicht“). Nach dem Aufstehen wurde den Probanden Blut abgenommen, um Baseline-Blutglucose-, Insulin- und Melatonin-Konzentrationen zu messen. 45 Minuten nach dem Aufstehen erhielten die Teilnehmer ein Frühstück, das 25 % des täglichen Kalorienbedarfs deckte (30 % Fett, 55 % Kohlenhydrate, 15 % Protein). Blutabnahmen erfolgten anschließend aller 40 Minuten während der nächsten zwei Stunden. Ergebnisse: Das Durchführen einer Frühschicht führte zu einer zirkadianen Fehlausrichtung. Die Melatonin-Spiegel waren daher am Tag der Frühschicht signifikant höher als an Tagen mit gewöhnlicher Aufwachzeit. Im Vergleich zur üblichen Aufwachzeit verursachte die mit der Frühschicht einhergehende morgendliche zirkadiane Fehlausrichtung einen signifikanten Anstieg der Blutglucose-Konzentration um ca. 5 % nach dem Frühstück. Keine Unterschiede wurden hinsichtlich der Insulin-Konzentration gefunden. Die Autoren schlussfolgerten, dass Arbeiten im Frühschichtsystem ein Risikofaktor für die Entwicklung eines Diabetes sein kann. Mögliche Gründe dafür sind eine gestörte zirkadiane Rhythmik und höhere Glucose-Konzentrationen am Morgen, die durch eine Mahlzeiteneinnahme während der „biologischen Nacht“ verursacht wurde.

Ob eine regelmäßige Mahlzeitenaufnahme zu einer späten Tageszeit ebenfalls mit einem erhöhten Risiko für Diabetes verbunden ist, wurde von Lopez et al. (2016) [20] untersucht. Die Wissenschaftler testeten die Hypothesen:

1. Ob die regelmäßige Einnahme von Mahlzeiten bei stark erhöhten endogenen Melatonin-Konzentrationen mit adversen glykämischen Veränderungen (einschließlich erniedrigter Glucosetoleranz) bei Personen, die häufig nachts essen, assoziiert ist, und

2. Ob diese Assoziation bei Trägern des MTNR1B-Risko-Allels stärker als bei „Nicht-trägern“ ausgeprägt ist.

Dazu wurden in eine randomisierten Cross-over-Studie 20 Träger des MTNR1B-Risko-Allels und 20 Nicht-Träger eingeschlossen. Bei den Teilnehmern handelte es sich um übergewichtige Frauen mit einem durchschnittlichen BMI von ca. 28 kg/m2, die bis dahin regelmäßig in der Nacht Mahlzeiten verzehrten. Jede Probandin wurde unter zwei verschiedenen Konstellationen für die Aufnahme des Abendessens getestet, jeweils für einen Tag lang:

1. „Spätes Essen“, bei dem das Abendessen eine Stunde vor dem Zubettgehen eingenommen wurde („Spanische Essenskultur“)

2. „Frühes Essen“, bei dem das Abendessen vier Stunden vor dem Zubettgehen zu sich genommen wurde („Nordeuropäische Essenskultur“)

 

Nach jedem der beiden Abendessen-Konstellationen wurde ein oraler Glukosetoleranztest (2 h-Wert) durchgeführt. Es zeigte sich, dass Träger des MTNR1B-Risko-Allels beim späten Essen eine signifikant schlechtere Glucosetoleranz aufwiesen verglichen mit einer früheren Aufnahme des Abendessens. Im Gegensatz dazu konnte bei „Nicht-Trägern“ kein Unterschied bezüglich der postprandialen Glucosetoleranz durch den Aufnahmezeitpunkt des Abendessens festgestellt werden. Die endogenen Melatonin-Konzentrationen bei späterem Essen waren generell höher als beim frühen Essen - unabhängig vom Genotyp. Basierend auf diesen Beobachtungen schlussfolgerten die Autoren, dass der Zeitpunkt für die Aufnahme des Abendessens mit dem MTNR1B-Risko-Allel interagiert und dadurch die Glucosetoleranz bei Personen, die häufig spät essen, beeinflusst wird.

In eine Fallkontrollstudie von Liu et al. (2016) [21] wurden 674 Frauen mit Gestationsdiabetes und 690 Frauen ohne Gestationsdiabetes als Kontrollen einbezogen. Es zeigte sich, dass Probandinnen, die das Allel G rs10830963 oder das T-Allel rs1387153 MTNR1B aufwiesen, ein signifikant erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Gestationsdiabetes hatten – der wiederum ein Risikofaktor für einen Typ 2 Diabetes darstellt. So entwickelten mehr als die Hälfte der betroffenen Patientinnen innerhalb von 10 Jahren nach der Schwangerschaft einen Typ 2 Diabetes. Diese Ergebnisse wurden durch eine Meta-Analyse mit insgesamt fünf Fall-Kontrollstudien bestätigt. Diese zeigte, dass das rs10830963-G-Allel häufiger in Patientinnen mit Gestationsdiabetes vorkommt als in gesunden Kontrollen. Dies gilt ebenso für die Häufigkeit des Vorkommens des rs1387153-T-Allels. Es konnte eine statistisch signifikante positive Korrelation zwischen den Risikofaktoren rs10830963-G-Allel bzw. rs1387153-T-Allel und der Suszeptibilität für die Ausprägung eines Gestationsdiabetes aufgezeigt werden.

 

Fazit

Die Ergebnisse der dargestellten Studien deuten darauf hin, dass die innere Uhr des Menschen mit seinem persönlichen Diabetes-Risiko zusammenhängt. Besonders deutlich wird dies bei Trägern der Genvariante rs10830963 G des Melatonin-Rezeptors 1B. Personen mit diesem Genpolymorphismus zeigen eine stärkere Beeinträchtigung der Insulinsekretion und Glucosetoleranz nach akuter Melatoninexposition. Zudem weisen sie längere nächtliche Sekretionsphasen von Melatonin und ein erhöhtes Diabetes-Typ-2-Risiko auf. [22], [23], [24], [25], [26], [27] Zukünftig könnten gendiagnostische Analysen einen wertvollen Beitrag leisten, um negative Effekte von Melatonin auf den Glucose-Metabolismus bei diabetischen Patienten und Personen mit einem erhöhten Diabetes-Risiko zu vermeiden. Der Einsatz personalisierter Medizin scheint in diesem Bereich wichtiger denn je zu sein.

 

Auch wenn die bisherigen Erkenntnisse aus genetischen Studien zum Zusammenhang zwischen Insulinresistenz, Glucose-Homöostase und Melatonin-vermittelten Effekten vielversprechend sind, fehlen bis dato aussagekräftige randomisierte kontrollierte Studien mit großem Stichprobenumfang um zu beurteilen, welche präventiven und therapeutischen Wirkungen Melatoninpräparate bei einem drohenden bzw. bestehenden Diabetes Typ 2 haben. Die Durchführung dieser Untersuchungen ist zukünftig notwendig, um z.B. zu evaluieren, ob die Gabe von Melatonin sinnvoll ist, um adverse Effekte von künstlichem Licht abzuschwächen oder die Adaption an Nacht- und Schichtarbeit zu verbessern, so wie es einige Wissenschaftler vorschlagen. [28]


[1] Körner/Patzak/Volkmer, Betäubungsmittelgesetz 8. Auflage 2016, Teil 2. Arzneimittel, Rn. 193

[2] VG Köln, Urt. v. 25.04.2017, Az. 7 K 5986/13

[3] OLG Celle, Urt. v. 02.02.2017, Az. 13 U 153/15

[4] EFSA, EFSA Journal 2010; 8(2):1467 und 2011; 9(6):2241

[5] Vgl. bereits Skarupinski/Jakobs: Stoffe wie Melatonin im rechtlichen Grenzbereich zwischen Arzneimittel, Medizinprodukt und Lebensmittel im Rahmen der Bewertung von gesundheitsbezogenen Angaben durch die EFSA, in: Akt Ernährungsmedizin 2014, 312-319.

[6] Vgl. EuGH, Urteile vom 06. 09. 2012 – Rs. C308/11 (Chemische Fabrik Kreussler) –, juris, Rz. 33 und vom 15. 11. 2007 – Rs. C319/05 (Knoblauchkapseln) –, juris, Rz. 55ff.; BVerwG, Urteile vom 25. 07. 2007 – C 23.06 –, juris, Rz. 20f. und vom 26. 05. 2009 – 3 C 5.09 –, juris, Rz. 13, 18; OVG NRW, Urteil vom 17. 09. 2013 – 13 A 1100/12 –, juris, Rz. 106 und Beschluss vom 10. 12. 2014 – 13 A 1202/14 –, juris, Rz. 5ff.

[7] Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. 12. 2006 - 3 C 40/05 -, juris.

[8] Vgl. Winters, Hahn: Die „pharmakologische Wirkung” als Kriterium bei der Abgrenzung Arzneimittel/Lebensmittel – eine Betrachtung aus der Praxisperspektive“ in LMuR 2009, 173 – 181.

[9] Siehe auch Presseerklärung des BfArm und des BfR vom 14.06.1996 und Schreiben des BfArm vom 20.09.2011

[10] Siehe u.a. BGH, NJW-RR 2011, 49, 50; NJW-RR 2010, 1407, 1409; NVwZ 2008, 1266, 1269; BGHZ 151, 286, 292, 297; BGH, NJW-RR 2000, 1284, 1285; BGHSt 46, 380, 384 f., 388; BVerwG, NVwZ 2012, 1343, 1344.

[11] Ebenso vgl. wissenschaftliche Stellungnahmen von Lemoine/Zisapel, Eckerberg et al., Wade et al., zitiert vom VG Köln, Teilurteil vom 8. 4. 2014 – 7 K 3150/12 abgedruckt in: LMRR 2014, 11 ff .

[12] Siehe VG Köln, Teilurteil vom 8. 4. 2014 – 7 K 3150/12 abgedruckt in: LMRR 2014, 11 ff .

[13] Vgl. LG Stuttgart, Urteil vom 17.11.2014 36 O 23/14 KfH.

[14] Vgl. LG Stuttgart, Urteil vom 17.11.2014 36 O 23/14 KfH.

[15] Vgl. zuletzt: EuGH, Urteil vom 03. 10. 2013 - C-109/12 - für die Abgrenzung von Arzneimitteln zu Medizinprodukten; EuGH, Urteil vom 09. 06. 2005 - C-211/03 - und Urteil vom 15. 01. 2009 - C140/07 -; BVerwG, Urteil vom 14. 12. 2006 - 3 C 40/05 - für die Abgrenzung zu Lebensmitteln, sämtlich in juris.

[16] Die Genvariante rs10830963 G des MTNR1B zeigt von über 80 Genvarianten, die im Zusammenhang mit Typ-2-Diabetes stehen, einen der stärksten Effekte auf einen erniedrigten „oral disposition index (DIO)“. Der DIO ist ein Maß für die Messung der Insulinsensitivität von Beta-Zellen.

[17] Tuomi T, Nagorny CLF, Singh P, Bennet H, Yu Q, Alenkvist I, Isomaa B, Östman B, Söderström J, Pesonen AK, Martikainen S, Räikkönen K, Forsén T, Hakaste L, Almgren P, Storm P, Asplund O, Shcherbina L, Fex M, Fadista J, Tengholm A, Wierup N, Groop L, Mulder H. (2016): Increased Melatonin Signaling Is a Risk Factor for Type 2 Diabetes, Cell Metab. 2016;23(6):1067-1077.

[18] Lane, J et al. (2016): Impact of Common Diabetes Risk Variant in MTNR1B on Sleep, Circadian, and Melatonin Physiology, in: Diabetes. 2016, 65(6):1741-51

[19] Stothard E et al.: Food intake during early morning shiftwork as a novel risk factor for metabolic dysregulation, Conference Report 31st anniversary meeting of the associated professional sleep societies 2017, Cochrane Database of Systematic Reviews

[20] Lopez et al. (2016): Dinner timing interacts with MTNR1B SNP to influence glucose tolerance in natural late eaters, Conference-Report 30th annual meeting of the associated professional sleep societies, Cochrane Database of Systematic Reviews

[21] Liu Q, Huang Z, Li H, Bai J, Liu X, Ye H. (2016): Relationship between melatonin receptor 1B (rs10830963 and rs1387153) with gestational diabetes mellitus: a case–control study and meta-analysis, Arch Gynecol Obstet. 2016;294(1):55-61.

[22] Forrestel A., Miedlich S. U., Yurcheshen M, Wittlin S. D., Sellix M.T.: Chronomedicine and type 2 diabetes: shining some light on melatonin Diabetologia (2017): 60:808–822

[23] Bonnefond A, Clement N, Fawcett K et al (2012): Rare MTNR1B variants impairing melatonin receptor 1B function contribute to type 2 diabetes. Nat Genet 44:297–301

[24] Karamitri A, Renault N, Clement N, Guillaume JL, Jockers R (2013): Minireview: toward the establishment of a link between melatonin and glucose homeostasis: association of melatonin MT2 receptor variants with type 2 diabetes. Mol Endocrinol 27: 1217–1233

[25] Lyssenko V, Groop L (2009): Genome-wide association study for type 2 diabetes: clinical applications. Curr Opin Lipidol 20:87–91

[26] Lyssenko V, Nagorny CL, Erdos MR et al (2009): Commonvariant in MTNR1B associated with increased risk of type 2 diabetes and impaired early insulin secretion. Nat Genet 41:82–88

[27] Mühlbauer E, Gross E, Labucay K, Wolgast S, Peschke E (2009): Loss of melatonin signalling and its impact on circadian rhythms in mouse organs regulating blood glucose. Eur J Pharmacol 606:61–71

[28] Touitou Y., Reinberg A, Touitou D (2017): Association between light at night, melatonin secretion, sleep deprivation, and the internal clock: Health impacts and mechanisms of circadian disruption. Life Sci. 2017 173:94-106.